Interview Sibylle Hofter von Yu Ji - AM art space

Ich erinnere mich, du hast dein Künstlergespräch im Rockbund Art Museum (RAM) gleich mit den Inhalten deiner Arbeit begonnen. Wieso hast dich entschieden, das so zu machen? Kannst du erklären wann und warum du dieses Projekt ins Leben gerufen hast?



Das Projekt beschäftigt mich vor allem in zweifacher Hinsicht: Meine eigene fotografische Arbeit hat mich zu den Themen geführt, die für das Projekt ausschlaggebend sind. Und zu einem bestimmten Zeitpunkt, ich glaube 2009, wollte ich nicht mehr einfach im Kunstkontext bleiben und dort Fotografie als Kommentar zu gesellschaftlichen und politischen Prozessen zeigen, sondern den “genaueren Blick” in die Realität der Pressefotografie einführen. In der Kunstwelt bestimmt das “Betriebssystem Kunst”, was als zeitgenössische Kunst gilt. Dasselbe passiert auch auf der Ebene der Nachrichtenproduktion. Auch hier bedingt die gegenseitige Abhängigkeit zwischen Produzenten und dem “Betriebssystem” den spezifischen Charakter von Nachrichten. Wenn ich mich recht entsinne, begann ich das Künstlergespräch im RAM um den Hintergrund zu skizzieren mit Arbeiten von vor etwa 25 Jahren. In gewisser Weise funktioniert das “Agentur Schwimmer” Projekt noch nach einem ähnlichen Prinzip. Damals, in den Achtziger Jahren war ich auch einer Kunstpraxis verfallen, die vorhandene Räume verwandelt, nehmen wir z.B. den klassischen Traum aristokratischen Reichtums mit Kronleuchtern, Parkett und opulenten Tafeln, den übersetzte ich in Apfelsinenkistenparkett oder Betonparkett, Kronleuchter aus Büchsenblech, die opulenten Gastmahle waren Berge aus Kartoffen, Zwiebeln und Trockenfisch (chinesischem übrigens). Jemand in der Zeit nannte das dann “verarmten Barock”. Die Pressefotoagentur weisst Parallelen auf. When Getty Images das definiert, was wir “Bildnachricht” nennen, kann man ein Projekt denken, das beansprucht Bildnachrichten neu und vielleicht anders zu denken. Eine modellhafte Verwandlung von Wirklichkeit. Gemäß Blochs “Ästhetik des Vor-Scheins” kann die Agentur utopisch sein. Wir arbeiten immer auf mindestens zwei Ebenen: Wir zeigen ein Bild und wir setzen es in einen bestimmten Kontext. Das Bild hat einen Inhalt und es hat einen Hintergrund. Der Hintergrund mag professionell sein, z.B. eine Bestandsaufnahme für ein Ingenieurbauwerk. Das Bild kann aber auch von einem Freizeitfotografen stammen, der am Wochende seine Zeit nutzt die Fragen zu stellen für die unter der Woche kein Raum ist.

Das Projekt setzt die Bilder in Kontext und schafft eine Art fiktiver Funktionalität. Deshalb wird die Agentur Schwimmer auch nie so konsistent sein wie eine Pressebildagentur. Sie verändert sich mit jedem neuen Beitrag. Wir werdem immer mit zu vielen losen Enden zu kämpfen haben und mit der Zeit. Die Notwendigkeit aktuell zu sein wird uns immer drangsalieren. Aber tatsächlich wird die Agentur wahrscheinlich irgendwann ihren Weg in den journalistischen Kontext finden.

 

In deinem Agenur Schwimmer Projekt sind viele gesellschaftliche Themen wie Bildung, Gesundheitswesen, Politik, Messen und Konferenzen etc. präsent. Haben alle Themen für dich die gleiche Bedeutung, oder würdest du dich gerne auf bestimmte Themen mehr konzentrieren?


Da wir eine Pressefotoagentur sind, stehen Politik und Wirtschaft an erster Stelle, gefolgt von den anderen gesellschaftlichen Themen. Später kommen dann Kultur und Wirtschaft. Wenn man sich diese Themenfelder genauer anschaut, merkt man, im ersten (Politik und Wirtschaft) geht es vor allem um die Akteure der Gesellschaft. Wer hat die Macht? Wie sehen diejenigen, die Macht haben aus, unter welchen Bedingungen arbeiten sie? Was können wir über den Unterschied zwischen Schein und Sein herausfinden? usw.

Das zweite Themenfeld nähert sich eher den Grundbedürfnissen der Menschen und Grundkonflikten einer Gesellschaft. Hier geht es um die Organisation des Gemeinwesens. Bis zu welchem Grade ist eine Gesellschaft in der Lage Probleme ihrer Mitglieder zu lösen? Wie unterschiedlich kann man die verschiedenen Bereiche bewerten? Die dritte Gruppe ist eher so etwas wie der freiwillige Teil, der die gesellschaftlichen Entwicklungen kommentiert. Die Kür.

Für mich sind die Themen am interessantesten, die man nicht einfach in eine der Gruppen einordnen kann - Themen, die man aus verschieden Perspektiven erörtern muss. Wenn zum Beispiel Kunst oder Sport Teil der Wirtschaft werden. Wenn Wirtschaft zu Politik wird. Wenn Gesundheitsversorgung Politik und/oder Wirtschaft wird. Wenn Bildung ein Instrument politischer Machtausübung wird und/oder ein Instrument wirtschaftlicher Entwicklung. Kann Kunst ein Mittel politischer Einmischung sein, kann wirtschaftlicher Erfolg zu einer emanzipatorischen Kraft werden? Momentan sind diese hybriden Eigenschaften der Themenfelder Ziel der Reorganisation unserer inhaltlichen Struktur.

Aber es ist ja klar, wir sind keine Soziologen. Das ganze thematische Netzwerk der Webseite (Serien, Themen, Ressorts) braucht am Schluss nicht nur technische und inhaltliche Folgerichtigkeit, sondern auch künstlerische und sogar ästhetische Schlüssigkeit.



Früher hast du viel installativ gearbeitet, Installation scheint nun aber im Schwimmer Projekt keinen Platz zu haben. Könnte man diese beiden medialen Bereiche als polare Kräfte deiner Arbeit bezeichnen? Kannst Du dazu etwas sagen?




Wie gesagt, das Agentur Projekt als funktionsfähiges Modell braucht eigentlich keinen Niederschlag im realen Raum. Aber was wir hier in Shanghai eher beiläufig realisierten, wird in den Fokus der nächsten Lokalredaktion rücken: Hier integrierten wir so genannte Roll-Ups in den Ausstellungsraum. Roll-Ups kennen wir von allen möglichen Veranstaltungen und Präsentationen. Ihre Wandelbarkeit interessiert mich. Wenn ich irgendwo, z.B. bei einer kommerziellen Veranstaltung, fotografiere, kann ich ihnen nicht entrinnen. Sie stellen den gegebenen Raum zu. Meist sind sie unter dem Vorwand informativ zu sein ziemlich aufdringlich gestaltet. Räumlich sind sie aber interessant: In ihrer Transportverpackung sind sie nahezu eindimensional (x-Achse). Wenn man sie ausrollt werden sie zweidimensional (x und y-Achse). In den Raum gestellt, werden sie dreidimensional. So sind sie ziemlich perfekt geeignet, den analytischen und den ästhetischen Ansatz des Projekts zu verbinden. Wie Du vielleicht auf meiner persönlichen Webseite gesehen hast, spielt räumliche Erfahrung in meiner künstlerischen Arbeit fast immer eine Rolle.

Die nächste Lokalredaktion in Heilbronn wird den Ausstellungsraum in einem Ladenlokal in das Büro der Lokalredaktion Heilbronn verwandeln. Das gesamte Projekt sehe ich als künstlerische Arbeit an, die einzelnen Bilder und Serien kann man aber als Halbzeuge verstehen. Wie Blech zu einem Briefkasten oder zu einer Flugzeugkarosserie wird. Unser Ziel ist, das Potential in den Bildern und Serien sichtbar zu machen.



Könntest du genau erklären, wie das Konzept, das ich jetzt mal Nachrichtenagentur nenne, funktioniert? Zahlt die Agentur z.B. Honorar für hochgeladene Bilder? Verkaufst du deine Bilder? Suchst du die Bilder, die veröffentlicht werden, allein aus, oder gibt es eine Art Kommission, die das diskutiert? Was ist der Mindeststandart für eingereichte Bilder? Denkst Du, dass deine persönlichen Interessen einen starken Einfluss auf das Erscheinungsbild der gesamten Online-Datenbank haben?




Wir haben das Projekt zu Dritt begonnen. Mein langjähriger Arbeitspartner Sven Eggers ursprünglich Architekt, kam als erster hinzu. Wir erarbeiteten das Konzept zusammen und der Webdesigner Volker Hüdepohl (Turtleontour) sorgte für die technische Umsetzung. Seit August 2013 ist die Beta-Fassung on-line. Momentan pausiert Sven Eggers. Nachdem ich als “Lokalkorrespondentin” in Kairo, Sydney und Haifa gewesen war, wurde Sofia die erste “Lokalredaktion”. Seither engagierte sich Daniel Sellek mehr und mehr und leitet nun die “Balkan-Redaktion”. Die Idee ist und war, die Agentur hierarchisch zu beginnen, um eine klare Vorstellung davon zu geben, was sie ist und was sie nicht ist. Und sie nach und nach zu öffnen und in ein kooperatives Projekt zu verwandeln. Vor zwei Wochen realisierte Daniel Sellek die Beteiligung der Lokalredaktion Bulgarien beim Watertower Art Fest Sofia während ich in Shanghai war. Die Lokalredaktion Shanghai wird ihre eigene Form von Fortsetzung finden. Wie erwähnt wird die Lokalredaktion Heilbronn ein Ladenbüro mit Corporate Design und wir sind im Gespräch mit der “Heilbronner Stimme”, einer der wenigen in Deutschland überlebenden selbstständigen regionalen Tageszeitungen außerhalb der Metropolen. Zunächst beschäftigten wir uns lange mit dem Aufbau der Webseite und der dahinterliegenden Datenbank, seit August steht die inhaltliche Entwicklung und vor allem die Motivierung von Fotografierenden mit möglichst unterschiedlichen Sichtweisen im Vordergrund. In naher Zukunft werden wir uns dann auf die Verbreitung konzentrieren. Daniel Sellek arbeitet an der Implementierung in die Sozialen Medien. Generell werden Fotografierende nicht von uns bezahlt. Wenn es allerdings notwendig und für uns auch machbar ist, Fotoproduktionen zu ermöglichen, gibt es ein wenig finanzielle Unterstützung. In regelmäßiger Form passiert das mit unserer “Korrespondentin” in Yaoundé.

Wir wollen unsere Inhalte der realen Welt zuführen. Das heißt generell verkaufen wir Reproduktionslizenzen (wobei jeder Fotografierende selbst entscheidet, ob und in welcher Form er uns die Weitergabe seiner Fotos gestattet).



Du erwähntest, dass deine und die Perspektiven der Fotografen in der Agentur sich von denen der Mainstream Medien unterscheiden.

Es gibt ja viele Selbstveröffentlichungs­platt­formen, z.B. Foto-Sharing-Apps wie Instagram. Wie grenzt ihr euch ab? Was war deine ursprüngliche Intention, und was ist daran anders?



Viele Leute fragten, warum baut ihr denn eure eigene Plattform?
Verglichen mit Social Media Plattformen ist eine normale Webseite ja schon fast wie ein Buch. Nahezu was zum Anfassen! Du hast natürlich recht, wir arbeiten in dem Spannungsfeld Kunstwelt / Fotosharing / Nachrichtenagentur. Die Sozialen Medien funktionieren auf vorgefertigten Plattformen. Benutzer bleiben immer Benutzer. Wenn Facebook z.B. die Gestaltung oder Funktionen ändert, muss ich das nachvollziehen. Mark Zuckerberg bestimmt, in welcher Form wir kommunizieren. Keine der großen Plattformen ist open source. Ich brauche ja nicht einfach eine Plattform, auf der ich Bilder zeigen kann. Mich interessiert die Kontextualisierung. Um Souverainität über den Kontext zu behalten, müssen wir diesen selber schaffen, auch wenn unsere technischen Möglichkeiten im Vergleich zu den Social Media Plattformen geradezu lächerlich beschränkt sind. Getty Images kooperiert mit flickr und nutzt die Plattform für seine eigenen Zwecke. Unsere ästhetische Gestaltung ist relativ einfach, fast vernachlässigt, sie spiegelt die Möglichkeiten, die typo3 uns bietet. Aber typo3 ist ein open source tool und degradiert uns nicht zu Konsumenten oder Nutzern, wir sind die Autoren unserer Seite.

Mit den vielen neuen Serien der letzten Zeit sind wir nun mal wieder an dem Punkt die Seite zu restrukturieren.



Ich glaube, du arbeitest hier in China zum ersten mal mit lokalen Teilnehmern in Form eines Workshops. Wie geht es dir dabei?




Es gab schon ein paar “Workshops”, aber kleiner als in China. Aber lass uns doch in dem Bild der Lokalredaktion bleiben.
Der Tatsache gegenüber, dass die Teilnehmer natürlich andere Schwerpunkte als ich haben, bin ich nicht blind. Ich denke, das haben wir alle gemerkt. Ich selbst habe das als dialektischen Prozess aufgefasst. Aber wir haben den Teilnehmern gerade einige Fragen geschickt. Wir werden also sehen, was sie selber dazu sagen.

Ich konnte 24 Stunden pro Tag an dem Projekt arbeiten, während die Teilnehmer alle in ihren Berufen waren. Manche machen Fotos um den Fragen nachzugehen, für die unter der Woche keine Zeit ist. Manche versuchen mit ihrer Fotografie, diese Fragen überhaupt ersteinmal zu finden. Ich denke, sie entschieden sich bei dem Projekt zu bleiben, weil sie einerseits beim Sprechen über ihre Fotografie gemeinsame Interessen entdeckten, aber von da aus auch interessiert waren auf ungewohnte Weise über diese Tätigkeit zu sprechen. Ich denke die Kontextualisierung ihrer Fotos in unserem Projekt spielt auch eine Rolle, vermutlich für jeden in unterschiedlichem Maße. Eher früher als später haben sich dann persönliche Beziehungen gebildet, die weiterhin bestehen.



Beim dritten Treffen sagte ein Teilnehmer es sei schwierig, genau und klar zu verstehen, was die Fotos in dem Projekt eigentlich verbinden soll. Wie stehst du zu dieser Frage? Hast du je andere Methoden ausprobiert?



Ich bin immer noch nicht sicher, ob ich diese Frage verstehe. Tatsächlich passiert es immer wieder, dass Leute das Projekt nicht verstehen. Ich weiss nicht warum. Mir scheint, dass sie normalerweise viel komplexere Sachen verstehen. Ich nehme an, dass es dafür zwei Hauptgründe gibt. Generell ist das Wort “Agentur” mit Geldverdienen verbunden. Mit diesem “billigen” Image haben wir in Deutschland viel mehr Probleme als hier in Shanghai. Da die Deutschen oft sagen, dass Leute in Shanghai immer aufs Geld schauen, war ich umso mehr erfreut, dieses Vorurteil zügig über Bord werfen zu können. Vor vielen Jahren, als Ebay gerade seinen großen Siegeszug in Deutschland angetreten hatte, entwickelte ich ein Projekt, das in und mit der online Auktionsplattform Ebay funktionierte. Das ging ziemlich schief. Die Leute aus dem Kunstkontext hatten nicht einmal Lust, sich das überhaupt anzuschauen. Wir hatten aber auch nicht die persönliche Überzeugungskraft diese Grundaversion aufzuweichen. Mit der “Agentur” haben wir es nun mit einer ähnlichen Grundannahme zu tun. Aber wir haben diesmal den Atem dranzubleiben. Ein zusätzliches “Verständnis”-Problem in China ist, dass die Agentur sich auf eine Presselandschaft in Ländern mit repräsentativer Demokratie bezieht, in der die Inhalte der Medien eine Frage wirtschaftlichen Überlebens sind. In diesen Ländern unterscheidet sich die tatsächliche Lage stark vom kulturellen Selbstverständnis einer “unabhängigen Presse”, die in vergangenen Jahrhunderten sowohl vom Bürgertum als auch von einer sich emanzipierenden Arbeiterklasse als kulturelle Paradigmen entwickelt wurden. Deshalb musste ich die Rolle des Agentur Schwimmer Projekts für China modifizieren. In einigen Ländern sind ja Presseagenturen und Regierungspressedienste dasselbe. Ich weiss nicht, wie sich das z.B. mit der Agentur XinHua verhält. Im Angesicht der chinesischen Verhältnisse erweiterte ich den Rahmen des Konzepts. Im Titel The Supply Chains of Society (Die Lieferketten der Gesellschaft) drückt sich die einfache und klare Orientierung auf die Hintergründe der sichtbaren Prozesse aus.

Wir haben natürlich auch ein ganz simples Kapazitätsproblem: Wir haben einfach nicht genug Arbeitskraft, um das Projekt zu jeder Zeit konsistent zu halten. Manchmal fallen Ressorts auseinander, weil neue Inhalte die Situation ändern, aber niemand hat Zeit, sich um eine schlüssige Neuordnung zu kümmern.

Ich wusste von Anfang an, dass wir uns in China mit diesem Projekt nicht in die Grauzone des politisch-künstlerischen Aktivismus würden bewegen können. Wir kommen aus einer Welt, in der wir nicht damit konfrontiert sind, zu wenig Informationen zu bekommen, sondern unser Problem ist eher, in dem Dschungel ein eigenständiges persönliches Verhältnis zu diesen Informationen zu finden. So konzentriert sich das Projekt darauf, einzelne Beziehungen näher zu beleuchten. Das ist also so ungefähr der diamentral entgegengesetzte Ansatz von dem, den politischer Kunst-Aktivismus in China braucht. Die Agenda für
The Supply Chains of Society schreckte dann auch nicht davor zurück, wie ein Stichwortkatalog zur Landeskunde auszusehen. Ich vertraute darauf, dass Life is what happens if you are busy making other plans (John Lennon). - Ich wusste wir werden Bilder jenseits des Geographiebuchs finden. Und wir fanden sie. Ich denke, einige Teilnehmer bezweifelten erstmal, dass das so ginge, aber sie blieben. Tatsächlich war es aber einer permanantes Ringen um die Supply Chains of Society, weil z.B. größere Firmen und Verwaltungen nicht darauf warteten, uns herein zu lassen um Bilder zu machen. Bei der Ausstellung der Arbeitsergebnisse am Schluss wurde dann klar, dass die Supply Chains of Society ein unerwartetes Granzes geworden sind. Ich denke, dass die Transformation, die die Serien aus der Lokalredaktion durch die Auswahl für die Ausstellung erfahren haben, sie in eine gemeinsame künstlerische Arbeit verwandelt hat.



Weil sich jedes Land unterschiedlichen Problemen stellen muss, mag ein Fremder einen ganz anderen Blick als ein Einheimischer auf ein und dasselbe Ereignis und seine Problematik haben. Wie gehst du mit dieser Verwandlung um?



Perspektiven zu hinterfragen und die Verhältnisse der Perspektiven untereinander ist eine der Metaebenen des Projekts. Je ähnlicher die Annäherungen an ein Thema, desto langweiliger ein Redaktionstreffen.



In China existieren Konflikte vor allem zwischen der Regierung und den Bürgern, natürlich unausgesprochen, aber auch zwischen Firmen und Angestellten. In der Konsumgesellschaft entstehen neue Probleme. In Shanghai ist z.B. der Standart für eine angemessene Hochzeit ziemlich hoch. Dieser Standart wird nicht nur von den Brautleuten, sondern auch von ihren Familien gefordert. Manchmal gibt es unlösbare Konflikte zwischen Eltern und Kindern. Sowas ist für westliche Ausländer schwer zu verstehen.




Neben dem Gespräch über fotografische Themen, ist das wohl für beide Seiten das Interessante an den Redaktionstreffen. Ich denke, wir sind uns einig, dass wir
At the End of the Day, global gesehen vor gemeinsamen Herausforderungen stehen (Ernährung, Umwelt, Macht). Gut dass du das komplexe Thema Hochzeit in der chinesischen Gesellschaft ansprichst. Obwohl wir in Deutschland die gleichen Bilder in unseren Wohnzimmern aufstellen, haben Hochzeiten doch einen ziemlich anderen Stellenwert (im Lokalteil Shanghai werden wir allein vier sehr unterschiedliche Hochzeitsserien haben). Ich hatte manchmal den Eindruck, dass die Konfliktlinie Regierung/Bürger teilweise eine Konstruktion der westlichen Presse ist (mit einer Tendenz die chinesische Situation für eigene Zwecke zu instrumentalisieren). Während meines Aufenthalts bekam ich eine vage Vorstellung davon, welche Rolle die Regierung an der Konfliktlinie Tradition/ (post)industrielle Entwicklung spielt. Und eine vage Vorstellung von der Ambiguität der Schulbildung in ihrer gegenwärtigen Form in China. Und ich bekam eine Vorstellung davon wie eng die Zeitfenster für individuelle Entwicklung sein können,...etc.



In China sind die ausländischen Medien mit einer Art unabhängigem Status ausgestattet. Deshalb könnte dein Blickwinkel schwer von den anderen ausländischen Medien zu unterscheiden sein? Könnte das nicht für Verwirrung sorgen?




Verwirrung? Klar. Warum nicht? Ich schreibe ja keinen Diskurs. Wir veröffentlichen Bilder in einem bestimmten Kontext. Falls ich zu wenig weiss, um eine Serie angemessen zu platzieren, hoffe ich auf die Teilnehmer, Missverständnisse auszuräumen. Letztlich muss aber die Schlüssigkeit der Themenfelder und des ganzen Projekts eine künstlerische sein und durch künstlerische Praxis und Vorgehensweisen erreicht werden. Das ist das Privileg, und hier ist endgültig nie endgültig.


Auch deshalb sehe ich keine Ähnlichkeit zur Arbeit des westlichen Pressecorps. In Deutschland nehme ich tatsächlich die Rolle eines Hybriden an – oder die des Bastards: Presse und Kunst. Aber hier bin ich aus dem Pressenetzwerk ausgeschlossen.

Aber du hast auch recht: Der Topos Doppelter Boden ist für das Projekt entscheidend. Wir sehen ein Bild und wir setzen es ins Verhältnis zu dem, was wir wissen. Das ist auch eine Grundlage der Wahrnehmung von Kunst. Natürlich weiss ich über diese Kommunikationsebene viel besser Bescheid, wenn ich es mit einem westlichen Publikum oder westlichen Partnern zu tun habe. Dieser Mangel an Wissen ist ein schwerwiegender Nachteil, und es wäre wesentlich besser, einen Chinesen für die Redaktionsarbeit zu gewinnen. Wir haben in der Agentur inzwischen so viele Themen und so viel Material, dass niemand mehr alle Doppelten Böden verstehen kann.



Werden die Leute für die du die Fotos machst deine Art nachzufragen ernst nehmen? Werden die Fotos sich wirklich in wesentlichen Punkten von dem unterscheiden was sonst so gemacht wird?




Wir machen die Fotos ja für eine Online-Publikum und als “Halbzeuge” für Ausstellungen. Eine der Kernideen ist, die Kraft des Bildes durch den Kontext zu verstärken. Diese Idee ist nicht neu, aber immer noch interessant. Insbesondere in diesem Zusammenhang. Bis an die Grenzen der Möglichkeiten zu gehen, gehört zum experimentellen Teil des Projekts. Manche Bilder erfahren sogar eine Art Paradigmenwechsel, bis dann plötzlich Schluss ist: Zu langweilig, zu unscharf, zu provinziell, ohne Gefühl. Kontext mag ein Magier sein, aber kein Gott. Natürlich muss man spätestens hier die Frage nach der Manipulation stellen.

Die Bilder der Teilnehmer sind auf unterschiedlichem Wege in das Projekt gekommen. Manchmal wählten wir aus Bildern aus, die die Teilnehmer in der Schublade hatten und nun für geeignet hielten, oder sie zogen aufgrund der Gespräche los. Einige Serien entstanden auch, weil ich ihnen bestimmte Ereignisse oder Orte ans Herz legte. Wenn ich vergleiche, was die Teilnehmer in ihren (online-) Alben hatten, denke ich einige haben in puncto Blick auf ihre eigenen Bilder tatsächlich erfahren, dass man auch ganz anders kucken und auswählen kann; und dass man auch ganz andere Prioritäten dafür setzen kann, was zum Thema von Fotografie wird; wie man einem Thema so nahe als möglich kommen kann ohne das Fotografierte mit der Kamera zu verletzen. Schwer zu sagen. Grundsätzlich bringt natürlich jeder, ob Laie oder Profi, seinen Hintergrund mit und soll ihn behalten, nur einige konventionelle Beschränkungen sollen aufgebrochen werden. Um mehr darüber zu erfahren, habe ich einen Fragebogen zusammengestellt, jeder sollte davon beantworten, was er Lust hatte. Momentan warte ich noch auf die Übersetzung der Antworten.

Den Arbeitsprozess betreffend möchte ich zwei Serien aus anderen professionellen Zusammenhängen erwähnen: Wir gingen die kompletten 3500 Fotos, die Marker Branco Vage bei einer auch für chinesische Verhältnisse aufwändigen Hochzeit als Auftragsfotograf gemacht hatte. Schon lange hatte ich mir so eine Situation gewünscht: Welche Möglichkeiten stecken in so einem Konvolut? Wieviel Nähe zu den Akteuren kann man herausfiltern?

Er wollte das für sich auch wissen. Neben seinem Chemie-Studium verdient er an den Wochenenden Geld als Hochzeitsfotograf. Obwohl er ganz jung ist, kann er die Erwartungen seiner Kunden voll erfüllen. Ich hatte den Eindruck, dass er aber auch daran arbeitet, aus diesem Ghetto heraus zu kommen. Später verschwand er für eine Weile, weil er sich um seinen Großvater im Krankenhaus in Shanxi kümmern musste. Dort machte er eine einfühlsame starke Serie. Mit seinem Händi. Es ist gut die Freiheit zu haben, auch mit schlechter Ausrüstung was zu machen.

Das andere Material kam von Xiaoye Shao. Für ihre Arbeit in einem Architekturbüro dokumentierte sie vom ersten bis zum letzten Tag alle Bauphasen eines Fussgänger-Decks (Hochstraße für Fußgänger) in Lujiazan, dem Zentrum von Pudong. Wir hatten zu wenig Zeit die gemeinsam auszuwählen, aber aus dem Material geht hervor, dass Shao die Nebenwege, die der Job ihr ermöglichte, sowieso im Blick hatte. Deshalb bringt der Auswahlprozess keinen überraschenden Unterschied zum Material zu Tage, und es spielt keine große Rolle, wer die Auswahl macht. Jedenfalls werden die Zuschauer die sattsam bekannte Szenerie von Pudong mit allen ihren Ingredenzien aus einer ungewohnten Perspektive sehen.

Es gab auch zwei professionelle Teilnehmer, deren Arbeit von vorne herein zu den Ansätzen des Agentur Projekts passten. Ich hätte Lust über jeden Teilnehmer zu sprechen, und die fänden es sicher lustig zu lesen, was ich denke sie denken. Aber ich schlage vor, auf ihre eigenen Texte zu warten.



In deinem Künstlergespräch fragte ein Zuschauer nach deiner eigenen politischen Ausrichtung, ob du eher dem linken oder dem rechten Flügel zugeneigt wärst. Du gabst die Frage zurück: Was vermute er? Definieren sich westliche Künstler über diese politischen Lager?




Ich gebe zu, zunächst gefiel mir die Frage nicht besonders, aber dann nahm ich sie als Steilvorlage um über “empathische Neutralität” zu sprechen: Schwimmer ist kein Instrument zur Vertretung der richtigen politischen Ansichten und geht nicht unbedingt an die Orte, wo die Sympathien liegen. Schwimmer geht dahin wo die Fragen sind.